Am Samstag, den 28.10.2023, feierte CHICAGO in Berlin seine schillernde und glitzernde Premiere.
Die Komische Oper präsentierte in ihrem Ausweichquartier (während der Umbauarbeiten) im Berliner Schillertheater das Musical CHICAGO von Fred Ebb und Bob Fosse (Buch) und der Musik von John Kander in der Inszenierung von Barry Kosky.
CHICAGO basiert auf wahren Begebenheiten.
Es geht um Lügen, Leidenschaften, Liebe, große Emotionen, Hoffnungen und Enttäuschungen. Also eigentlich um das ganz normale Leben.
Wir haben einen glamourösen Abend voll Sex-Appeal, wundervollen Kostümen, herausragenden DarstellernInnen, einem glitzernden Bühnenbild und einer ordentlichen Portion Ironie erlebt.
Inszenierung für einen gelungenen Musicalabend
Barry Koskys Inszenierung ist genau das, was man bei CHICAGO erwartet.
Diese Inszenierung hält dem Zuschauer die ungeschönte Wahrheit damals wie heute vor die Augen. Geld, Lügen, Sex und Promotion schaffen den Rahmen in einer Gesellschaft, um unter dem Recht abzutauchen.
Glitzer, Glamour, Klischees, Sex, Ironie und ein wenig Kitsch vereinen sich in der Revueartigen Präsentation in harmonischem Einklang und bieten dem Publikum einen mehr als unterhaltsamen Abend.
Ein Bühnenbild das beeindruckt und immer wieder überrascht
Wir tauchen ein ins Chicago der 20er Jahre, die Zeit der Prohibition und die Zeit als Verbrecher gefeiert wurden wie glamouröse Stars. Lügen und Korruption sind zu dieser Zeit gesellschaftsfähig.
Beim Betreten des Theatersaales zeigt sich das Bühnenbild, in Form eines Gefängnisgitters. Farblos, engmaschig, unüberwindlich. Wer da hinter ist, kann nicht entkommen.
Doch schon zum Beginn der Show zeigt sich, dieses Gefängnis ist anders als andere Gefängnisse. Es ist eine Revuebühne, die durch Tausende von Lichtern (ganz genau 6.500) zum schillernden Showpalast avanciert. Ein beeindruckendes Lichtdesign wird die gesamte Show genau in die richtige Situationsstimmung versetzen und im richtigen Augenblick den Eindruck von tausenden glitzernden Diamanten geben.
Durch die Verschiebbarkeit der einzelnen Vorhangelemente entsteht ein tiefes Bühnenbild, das sich je nach Handlungsort und Aussage der Szene perfekt anpassen lässt, ohne mit viel Bühnenbild oder Umbauarbeiten abzulenken.
Eine Eröffnungsnummer mit Glamour und Sex-Appeal
Dieses Bühnenbild zieht uns auch sofort in die Handlung der Geschichte.
Velma Kelly (Ruth Brauer-Kvam) zeigt bereits bei der Eröffnungsnummer (All that Jazz) welchen Stand sie im Knast hat. Sie ist die verruchte Lady, die durch geschickte Publicity ihren Kopf aus der Schlinge ziehen will und dabei keine Freunde kennt.
Velma hat ihre Schwester und ihren Ehemann ermordet und ihr droht der Tod durch den Strang.
Ruth Brauer-Kvam ist nicht nur optisch die perfekte Velma. Ihre Velma ist durchtrieben und berechnend, lässt aber auch Raum für die Ängste und Verzweiflungen des Charakters.
Durch ihre darstellerische und perfekte stimmliche Präsenz nimmt sie die Bühne für sich ein, sobald sie diese betritt, was das Publikum auch bereits bei der Eröffnungsnummer mit viel Applaus honoriert.
Velma ist die Queen im Cook County Frauenknast. Sie genießt dank ihres Anwaltes Billy Flynn (Jörn-Felix Alt) ihrer vermeintlich innigen Beziehung zur Anstaltsleitung Mama Morton (Andreja Schneider) so einige Privilegien und auch die nötige Publizität, um täglich in der Tagespresse präsent zu sein und als Opfer der Justiz gefeiert zu werden. Velma ist Gesprächsthema in der Gesellschaft und das schafft gute Chancen, dem Strick zu entkommen.
Roxy - naiv und durchtrieben
Roxy Hart (Katharine Mehrling) hat ihren Liebhaber erschossen und wandert dafür ebenfalls ins berühmt berüchtigte Frauengefängniss Cook County, wo ganz eigene Gesetzte gelten.
Katharine Mehrling ist in der Rolle der Roxy Hart perfekt. Ihre Roxy ist eine grandiose Mischung aus naivem, unschuldig wirkenden Showgirl und eines Publicity süchtigen Vamps, welche bereit ist, zur Rettung des eigenen Lebens alles zu tun.
Katharine Mehrling zeigt in voller Breite ihr komödiantisches Talent, ihre Entertainmentqualitäten und natürlich ihre einzigartige unverwechselbare Stimme.
Es ist ein absolutes Vergnügen und ein wirklich musikalischer Genuss, Katharines Roxy zu folgen. Man ist gefangen von dieser Frau, man leidet und lacht mit Roxy und kann sich nicht dem Gefühl entziehen, Sympathie und Verständnis für diese „Mörderin und Ehebrecherin“ aufzubringen.
Katharine Mehrling eine Roxy Hart, die auf ganzer Linie überzeugt. Köstlich ihre Darstellung als werdende Mutter im Song „Mein Baby und ich“, diese Einzigartigkeit kann nur eine Katharine Mehrling.
Billy Flynn - Meister der Selbstinszenierung
Dreh- und Angelpunkt in der ganzen Geschichte ist aber Billy Flynn (Jörn-Felix Alt): Billy Flynn ist eigentlich der verlogenste und korrupteste unter all den Charakteren. Er nutzt die Angst und Verletzlichkeit anderer, um sich selbst in Szene zu setzen und seinen Lebensstil zu finanzieren. Jörn Felix Alt präsentierte uns einen arroganten, aalglatten, korrupten Anwalt mit viel Charisma und dem unschlagbaren Talent eines Entertainers.
Sein Billy Flynn ist der sich selbst inszenierende Anwalt auf der großen Showbühne Leben. Bereits sein erster Auftritt, der dem einer großen Showdiva mehr als gerecht geworden wäre, zeigt seine wahren Ambitionen und Charakterzüge: Lebe glamourös, nutze dein Talent und inszeniere Dich groß. Er spielt wunderbar mit den Ängsten und Emotionen seiner „Klientinnen“ und Jörn Felix Arlt, hält uns ungeschönt den Spiegel der Gesellschaft damals wie auch noch heute vor Augen. Geld regiert die Welt und wenn du es geschafft hast, das die Presse sich interessiert, stehen die Chancen, alles zu erreichen, sehr gut. Das war und ist immer noch so.
Große Auftritte, Lügen, Selbstinszenierung und Publicity ebenen den Weg in ein Leben ohne Sorgen. Das hat schon 1920 ohne den Einsatz von Social Media funktioniert.
Die Knast Mama ist nicht minder gefährlich als ihre Schützlinge
Nicht weniger skrupellos und somit auch nicht weniger gefährlich als die 3 anderen Protagonisten Mama Morton (Andreja Schneider). Wäre sie nicht die unangetastete Knastschluse, wäre sie sicher Puffmutter geworden. Sobald Andreja Schneider die Bühne betritt, spürt man ihre Präsenz und ihre uneingeschränkte Macht gegenüber den Frauen. Mit brillant gespielter Fürsorglichkeit und geheuchelter Freundschaft verschafft sich auch Mama Morton das Ansehen und den Lebensstandard, den sie für sich beansprucht. Für die entsprechende Geldsumme findet sie immer einen Ausweg für ihre Schützlinge. Es ist aber auch völlig klar und legitim für sie, wer nicht zahlen kann und nicht mehr im gewünschten Fokus steht, der geht unter.
Andreja Schneider zeigt auf der Bühne darstellerisch und stimmlich totale Präsenz und gibt dem Charakter Stärke und Macht. Ihre gespielte Fürsorglichkeit macht sie gefährlich und korrupter als die eigentlichen Verbrecherinnen im Cook County.
Authentizität avanciert zum Publikumsliebling
Der fast Verlierer im Stück, aber keinesfalls auf der Bühne Ivan Turšić als Amos Hart.
Roxys Ehemann, der immer und überall übersehen wird, der eigentlich nicht existent ist, erhält durch Ivan Turšić ein Gesicht. Wundervoll seine todtraurige Abrechnung mit seinem Leben als Mister Cellophan, dem Mann, durch den man hindurchsieht. Diese Szene macht ihn zum ungekrönten Publikumsliebling. Ist Amos Hart doch augenscheinlich der einzig ehrliche und anständige Mensch in diesem ganzen Geflecht aus Intrigen und Lügen. Nach anfänglichem Belächeln dieser Szene muss sich der Zuschauer eingestehen, Amos darf nicht übersehen werden.
Ein Mensch, der in Ehrlichkeit und wahrer Liebe agiert, darf nicht vom Leben übersehen werden, was das Premierenpublikum auch mit lang anhaltendem Applaus honorierte.
Ein brillantes Ensemble mit viel Perfektion
Das ganze Drahtgeflecht aus Lügen, Korruption und Selbstinszenierung funktioniert aber nur, wenn möglichst viel davon erfahren.
Neben einem Großaufgebot an Presseleuten (dargestellt von einem wunderbaren Ensemble und geschickt in Szene gesetzten Kostümaccessoires) tritt hier immer wieder Klatschreporterin Mary Sunshine (Hagen Matzeit) in den Fokus des Geschehens. Matzeits Countertenor ein herausragendes Erlebnis und ein Genuss für die Ohren. Seine Präsenz ist unaufdringlich, aber unüberseh- und unüberhörbar.
FAZIT
CHICAGO damals wie heute ein Musical Klassiker, der das Publikum mitnimmt, begeistert und die traurige Erkenntnis bringt, es hat sich in den letzten 100 Jahren wenig geändert. Lügen, Intrigen, Manipulationen und die richtige Summe Geld an den richtigen Stellen platziert, können so manch ein Leben in die gewünschten Bahnen lenken oder es aber auch vernichten.
Velma und Roxy sind zwei charmante Mörderinnen, sie werden im Musical zu Personen, für die man im Endeffekt Sympathie aufbringen möchte.
Wie von den genialen Inszenierungen der Komischen Oper nicht anders zu erwarten, wurde die exzellente Show von einem kompletten Orchester und einem perfekten Ensemble begleitet, die den Abend zu einem puren Genuss der Unterhaltung gemacht haben.
Musical Klassiker voll im Trend
Diese Premiere hat uns wieder einmal in dem Gefühl bestärkt, das die klassischen „Alten“ Musicals noch immer ein Garant für einen perfekten Showabend sind, der auch in den heutigen Zeiten bezahlbar ist und keine Abstriche an Qualität und Brillanz mit sich bringt.
Musikalische Leitung Adam Benzwi
Inszenierung Barrie Kosky
Co-Regie und Choreographie Otto Pichler
Bühnenbild Michael Levine
Kostüme Victoria Behr
Dramaturgie Johanna Wall
Chöre Jean-Christophe Charron
Licht Olaf Freese
Besetzung (Premiere 28.10.2023)
Roxie Hart Katharine Mehrling
Velma Kelly Ruth Brauer-Kvam
Billy Flinn Jörn-Felix Alt
Mama Morton Andreja Schneider
Amos Hart Ivan Turšić
Mary Sunshine Hagen Matzeit
Kitty Martina Borroni
Liz Mariana Souza
June Danielle Bezaire
Annie Petra Ilse Dam
Mona Lindsay Dunn
Hunyak Paulina Plucinski
Tänzer
Lorenzo Soragni, Michael Fernandez, Andrii Zubchevskyi, Shane Dickson, Benjamin Gericke, Ivan Dubinin
Dance Captain Silvano Marraffa
Orchester und Komparserie der Komischen Oper Berlin
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